"So läßt sich das Internet erschließen!" -

Der Trampelpfad der Düsseldorfer Virtuellen Bibliothek (DVB) [1]

Thomas Hilberer


Unter der Überschrift "Und wie halten Sie es mit der Internet-Erschließung?" bespricht Beate Tröger im Bibliotheksdienst, 11, 1998, S. 1922-1930, die gescheiterte "Fachreferatskomponente des Projektes IBIS, des Internetbasierten BibliotheksInformationsSystems" (S. 1925). Dabei wird zuerst ganz richtig ein dringender Bedarf für eine systematische Aufbereitung wissenschaftlich bedeutender Internet-Quellen festgestellt. Benutzerbefragungen ergaben, daß man diese Dienstleistung - logischerweise! - von der Bibliothek erwartet. Von wem auch sonst?

Die Aufgabe der Bibliothekarinnen und Bibliothekare besteht seit jeher im Sammeln, Erschließen und Bereitstellen von Informationen: Baumrinden, Papyri, Pergament, Papier, Mikrofilme und CD-ROMs - das Trägermaterial hat stets eine sekundäre Rolle gespielt. Jetzt ist eben das Internet dazugekommen.[2]

Der Unterschied zwischen den herkömmlichen Medien und dem Internet ist zum einen quantitativ: in seiner Gesamtheit ist es unerschließbar, und zum anderen qualitativ: es verändert sich ständig, und die Bibliothek kann hier nur virtuell sein, d.h. sie besitzt die Informationsträger nicht, nur die Verweisungen auf diese (links).[3] Aus diesen beiden Unterschieden ergeben sich zwei Folgerungen:

Erstens: Da das Internet als Ganzes nie und nimmer erschlossen werden kann, müssen wir eine strenge und einzig am Kriterium der Qualität orientierte Auswahl treffen. Diese handverlesenen links müssen systematisch angeordnet, sinnvoll kommentiert und regelmäßig überprüft werden. Genau das erwartet der Benutzer von einer bibliothekarischen Link-Sammlung. Und während wir Bücher viel zu oft kaufen, ohne sie zu kennen, können wir in der virtuellen Bibliothek noch prüfen, abwägen, beurteilen, und nur das Beste aufnehmen. Und deshalb ist auch das auf Masse ausgerichtete Projekt GERHARD schon vom Ansatz her falsch.

Zweitens. Da von "Besitz" (holding) keine Rede sein kann, gibt es auch keinen Zwang zur Erschließung, anders als bei den Medien im Besitz der Bibliothek, die in jedem Fall erschlossen werden müssen. Dies eröffnet auch die Chance der Kooperation: nicht jede (reale) Bibliothek muß eine vollständige virtuelle Bibliothek aufbauen, in vielen Fällen genügt der link auf eine solche Sammlung, angereichert mit Verweisungen auf lokale Internet-Informationen und evtl. ergänzt durch spezielle virtuelle Sammelschwerpunkte in Übereinstimmung mit dem jeweiligen Bibliotheksprofil.

Damit habe ich sicherlich nur das gesagt, was jeder, der den Bibliotheksdienst liest, ohnehin schon weiß. Und natürlich wußten dies auch die Kolleginnen und Kollegen, die die fachlichen Quellen in die Datenbank des "Projekts IBIS" einbringen sollten. Sie taten dies überwiegend nicht, und sollen bei einer Umfrage als Grund für ihre Zurückhaltung "Zeitmangel" angegeben haben. Bestätigt das das Vorurteil vom Fachreferenten, der um die Neuen Medien einen großen Bogen macht?

Nein, im Gegenteil: wir (auch ich wurde um Mitarbeit gebeten) haben das Projekt deshalb abgelehnt, weil die Datenbank zwar sehr "bibliothekarisch", aber ausgesprochen benutzerunfreundlich aufgebaut war. Das "Projekt IBIS" hätte mithin genau das nicht leisten können, wozu es geschaffen werden sollte: den Zugang zum Internet zu erleichtern. IBIS war ein aufwendig geplantes Portal, das immer verschlossen geblieben wäre.[4] Diese Einwendungen wurden vorgetragen, aber nicht berücksichtigt, weshalb sich die als Beiträger vorgesehenen Fachreferentinnen und Fachreferenten mit Zeitmangel entschuldigten und die Bauherren schließlich das Vorhaben aufgeben mußten.

Die Düsseldorfer Virtuelle Bibliothek (DVB) gab es schon lange, bevor das "Projekt IBIS" aufgebaut werden sollte. Sie bietet mittlerweile über 10.000 sorgfältig ausgesuchte, systematisch angeordnete, größtenteils kommentierte und ständig überprüfte Quellen zu sämtlichen Wissenschaftsfächern. Aufbau und Pflege leisten die Düsseldorfer Kolleginnen und Kollegen neben ihrer sonstigen Arbeit. Es gibt keine Freistellungen, keine zusätzlichen Stellen, nicht einmal eine Hilfskraft, keine Mark Sondermittel.

Dabei ist der Zeitaufwand durchaus vertretbar. Um die wenigen Elemente von HTML zu erlernen, die für unsere schlichten Seiten erforderlich sind, benötigt man nicht mehr als einen Arbeitstag. Das Einbauen eines neuen links braucht mit allen Vor- und Nacharbeiten in keinem Fall mehr als zehn Minuten. Die Link-Überprüfung erfolgt automatisch, der Aufwand für das Korrigieren oder Löschen einer als fehlerhaft gemeldeten Verweisung beträgt ebenfalls nur wenige Minuten.[5]

Ursprünglich bot die Düsseldorfer Virtuelle Bibliothek (DVB) pro Fach nur einige wenige Einstiegspunkte, nämlich Verweisungen auf fachliche Sammlungen von Internetquellen, also auf Seiten, die versuchen, möglichst alles zu einem Thema zusammenzutragen. Bietet man mehrere links auf solche umfassenden Sammlungen zu einem Fach, so ist es für den Benutzer ein Leichtes, sich einen Überblick zu verschaffen und die zur Beantwortung einer speziellen Frage benötigten Informationen zu finden.

Diese Ausgangskonzeption, lediglich jumping pages für den ersten Einstieg anzubieten, wurde bald überschritten zu Gunsten einer detaillierteren Auflistung auch einzelner Quellen. Da wir aber keine Vollständigkeit anstreben, läßt sich die Bearbeitung der Seiten durchaus in das Arbeitspensum eines Fachreferates integrieren. Als Quellen neuer URLs dienen einerseits andere thematische Sammlungen und Virtuelle Bibliotheken,[6] andererseits "laufende Bibliographien" wie der Scout Report[7] Darüber hinaus finden sich Hinweise natürlich auch in der gedruckten Literatur, und nicht zuletzt erhalten wir fast täglich (elektronische) Briefe von Kolleginnen und Kollegen, die uns auf neue Quellen aufmerksam machen - insofern ist die DVB weit mehr als eine lokale Sammlung, sondern durchaus ein Produkt bibliothekarischer Kooperation.

Der minimale Zeitaufwand pro Monat liegt unter zwei Stunden; es gibt freilich auch Kolleginnen und Kollegen, die ein Vielfaches an Zeit investieren - vor allem im Hinblick auf (werbewirksame!) Veranstaltungen wie fachliche Internet-Einführungen. Verschweigen will ich jedoch nicht, daß auch die Koordination des Ganzen "etwas mehr" Zeit kostet.[8]

Die DVB war nie ein "Projekt". Es gab keine Arbeitsgruppen, keine Tagungen, keine Evaluierungen; es wurde nicht zuerst in vielen Sitzungen verschiedener Gremien ein ausgefeiltes theoretisches Konzept ausgedacht, diskutiert, redigiert, verworfen, wieder diskutiert etc. Wir haben einfach die Notwendigkeit gesehen, unseren Benutzern das Internet zu erschließen, und deshalb angefangen, Quellen nach Fächern geordnet zusammenzutragen. M.a.W.: wir haben, ganz ähnlich wie kurz vorher Yahoo!, unsere aus der Praxis der Internet-Recherche gewonnenen fachlichen Bookmarks benutzerfreundlich aufbereitet und ins Internet gestellt.[9] Zeitaufwand für die Planung: Null - wir orientieren uns im Großen und Ganzen einfach an der Systematik des Freihandbereichs der realen Zentralbibliothek.[10]

Die Gebäude eines großzügig angelegten Campus mit vielen Grünflächen werden meist durch mehr oder weniger aufwendig angelegte Wege verbunden, die keiner benutzt: über die Trampelpfade kommt man schneller ans Ziel. Die Düsseldorfer Virtuelle Bibliothek (DVB) ist ein solcher Trampelpfad: nicht auf dem Reißbrett entworfen, nicht mit hohem Aufwand gebaut, auf den ersten Blick vielleicht etwas unscheinbar. Dieser Trampelpfad ins Internet ist aus der Praxis für die Praxis entstanden, damit das Ziel, nämlich die gesuchte Information, von unseren Kunden schneller und leichter erreicht werden kann.

Und daß dieser Pfad dankbar angenommen wird, belegen nicht nur die weit über 200.000 monatlichen Seitenaufrufe und die fast 2.000 Hyperlinks auf die DVB[11], sondern ganz besonders die zahlreichen schriftlichen und mündlichen Zustimmungen.

Damit hat die Bibliothek das Feld "Internet" besetzt und ihre Zuständigkeit für Informationen gleich welchen materiellen Trägers bewiesen. Sie hat so verhindert, daß sich ihre "Klientel - und damit, hier darf man sich gerade im Zeitalter des Globalhaushaltes nichts vormachen, auch [ihre] Finanziers anderen Informationsspezialisten zuwenden" (S. 1929).

Und damit hat sich, wie ich meine, der Zeitaufwand gelohnt. Um so mehr, wenn man berücksichtigt, daß sich die DVB mit geringstem Aufwand von allen lokalen Bezügen befreien und zur NRW-VB oder Deutschen-VB ausbauen ließe.

Aber kennen Sie einen Architekten, der Trampelpfade akzeptiert?


Anmerkungen

[1] http://www.uni-duesseldorf.de/ulb/virtbibl.html; oder über die Hauptseite der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, http://www.uni-duesseldorf.de/ulb/ oder http://www.ub.uni-duesseldorf.de/ bzw. http://www.ulb.uni-duesseldorf.de/.

[2] Wer vom Chaos des Internets spricht, übersieht, daß auch die Fülle des Gedruckten grundsätzlich ungeordnet ist - nur hat uns eben das jahrhundertelange emsige Ordnen von Bibliographen, Buchhändlern und Bibliothekaren dieses ursprüngliche Chaos vergessen lassen.

[3] Etwas anderes stellen elektronische Dokumente dar, die auf dem Server einer Bibliothek vorgehalten werden. - Zur Definition der "Virtuellen Bibliothek" siehe http://www.uni-duesseldorf.de/ulb/virtdef.html.

[4] Cf. Giesbert Damaschke: Kopfgeburten (In: Internet Professionell, 12, 1998, S. 18), über praxisfern entworfene kommerzielle Web-Sites, die nicht "aus praktischen Erfahrungen des Internetalltags" gewachsen sind, sondern entstanden als "Planspiel am grünen Tisch".

[5] Wir verwenden einen ganz einfachen Quelltext-Editor (HTML Assistant, siehe http://www.uni-duesseldorf.de/ulb/webpsoft.html) - damit lassen sich einfache Seiten viel schneller erstellen und bearbeiten als mit den vermeintlich komfortableren sog. "WYSIWYG-Editoren" wie Frontpage oder Netscape Composer.

[6] http://www.uni-duesseldorf.de/ulb/intsuchs.html#syst.

[7] http://wwwscout.cs.wisc.edu/scout/report/.

[8] Weiteres zur Organisation siehe NfD-Information.Wissenschaft und Praxis, 49. Jahrgang/Volume 49, Nr. 4/1998, S. 196-198; auch http://www.uni-duesseldorf.de/~hilberer/dvb1.html.

[9] Der Erfolg von Yahoo! und anderen derartigen Unternehmungen einschließlich der DVB widerlegt auch die Behauptung, "daß die Nutzer die Browsing-Funktion kaum verwenden" (S. 1928; für IBIS mag dies freilich gelten).

[10] Ist eine Seite zu umfangreich geworden (Dateien über 30 KB kann der von uns hauptsächlich verwendete Editor ohnehin nicht verarbeiten), wird einfach ein Abschnitt als Unter-Seite ausgegliedert - meist entsprechend einer Hauptgruppe der Düsseldorfer Freihand-Systematik.

[11] AltaVista: Advanced Query, Suchfrage: "link:/WWW/ulb/ AND NOT url:/WWW/ulb/", 24.11.1998.


Dezember 1998

In: Bibliotheksdienst, 33. Jg. (1999), H. 1, S. 54-57.

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