"Bibliothekswissenschaftler"

Leserbrief zu: Jörn Klockow / Volker Roth-Plettenberg: Strukturmodelle für eine Ausbildung zum Höheren Bibliotheksdienst (Bibliotheksdienst, 1991, H. 3, S. 334-345)

Thomas Hilberer

Danke für die Einladung zur Diskussion! - difficile est satiram non scribere.

Die zentrale (und einzige) These des Aufsatzes ist die Forderung, die gesamte theoretische Ausbildung des höheren Dienstes von den Bibliotheksschulen und Fachhochschulen auf die Universitäten zu verlagern und dort ein Fach "Bibliothekswissenschaft" einzurichten.

Wozu dies gut sein soll, wird nicht gesagt. Den zukünftigen Bibliothekaren jedenfalls nützt es nichts. Im Gegenteil: sie müßten sich neben ihrem Fachstudium - das in den meisten Fällen ohnehin schon stofflich überfrachtet ist - auch noch bibliothekarisches Wissen im Nebenfach aneignen.

Und dies in der Zeit ihrer Prüfungsvorbereitung und Prüfung für das Hauptfach! Hauptfach oder Nebenfach, eines von beiden wird vernachlässigt werden, und die zukünftigen Kollegen werden also fachliche oder bibliothekarische Defizite aufweisen. Damit wäre weder ihnen noch den Bibliotheken gedient, folglich auch nicht den Lesern, für die die Bibliotheken da sind. Und diese Benutzer sind nicht zuletzt die Universitäten, die sich schon deshalb gegen dieses neue Fach, das sich da als Wissenschaft aufplustert, sperren sollten.

- Eine Bibliothekswissenschaft - dies nur am Rande gesagt - gibt es nicht; es kann sie sowenig geben wie eine Wissenschaft etwa von der Verwaltung eines Einwohnermeldeamtes oder vom Betrieb eines Großkaufhauses. Die bibliothekarische Tätigkeit ist eine Technik, ein "Handwerk", eine Praxis (abgesehen vom fachlichen Teil der Arbeit eines Fachreferenten, aber den lernt er im Fachstudium, und darum geht es hier nicht). Dieses "Handwerk" versucht selbstverständlich von den verschiedenen Wissenschaften zu lernen, es übernimmt Methoden und Erkenntnisse verschiedener Fächer: beispielweise von der Chemie, wenn es um Fragen der Konservierung geht, von der Sprachwisenschaft und Logik bei der Sacherschließung, und die Psychologie kann bei der Optimierung der Benutzeroberfläche eines OPACs helfen. Das gleiche gilt für die theoretische Beschäftigung mit "der Bibliothek", für die Reflexion der bibliothekarischen Tätigkeiten. Auch hier werden Methoden anderer Wissenschaften übernommen, um die eigene Praxis kritisch zu überdenken, aber keine eigenen Methoden geschaffen. Aber gerade wegen dieser Komplexität und eklektizistischen Vielfalt kann es die "Bibliothekswissenschaft" nicht geben, als genuine und spezifische Wissenschaft, mit eigener Theoriebildung und grundlegender methodischer Reflexion. - 1

Trotz dieser grundsätzlichen Bedenken möchte ich die Vorschläge etwas genauer anschauen. Ab dem 5. Semester soll man also "Bibliothekswissenschaft" als Nebenfach studieren, nach dem 11. Semester schließlich soll die Prüfung sein. Die Ausbildung würde sich also über mehr als drei Jahre hinziehen - ist dies sinnvoll? Was soll diese Dehnung bewirken?

Und wann eigentlich soll die Doktorarbeit geschrieben werden? Etwa nach dem Gesamtstudium von 11 Semestern? Dann läge die gesamte bibliothekarische Ausbildung beim Eintritt in eine Bibliothek mindestens 2-3 Jahre zurück. Die Dissertation aber würde erschwert und deren Ergebnis somit verschlechtert werden, da ja zwischen Abschluß des Fachstudiums und Beginn der Doktorarbeit anderthalb Jahre (Praktikum und "Vertiefung") lägen. Würde die Doktorarbeit doch, wie üblich und sinnvoll, nach Abschluß des Fachstudiums verfaßt, dann erstreckte sich die bibliothekarische Ausbildung über fünf bis sieben Jahre, unterbrochen eben durch die "Pause" der Dissertation.

Wer also hätte von der Verwirklichung dieser Pläne einen Vorteil? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als seien dies einzig die Dozenten. Die Bibliothekswissenschaftler wären dann Professoren an einer ordentlichen Universität, Lehrstuhlinhaber, mit Assistenten, Sekretärin, Hilfskräften, bezahlt nach C4, Ordinarien, gleichgestellt den Professoren etwa für Medizin, Physik oder Philosophie!

Nun ist es jedem unbenommen, an einer Verbesserung seines Status zu arbeiten (Verbandsfunktionäre des gehobenen Dienstes haben dies unlängst wieder einmal recht unverblümt getan)2, aber dergleichen Status- und Prestige-Forderungen sollten als solche gestellt werden, und nicht verkleidet als Sachprobleme.

Sachprobleme gibt es in der Ausbildung des höheren Dienstes (und sicher nicht nur dieses) zur Genüge. Es müßte zum Beispiel darüber nachgedacht werden, wie Personalfragen in die Ausbildung besser einbezogen werden könnten (vielversprechende Ansätze hierzu hat die Frankfurter Bibliotheksschule gefunden) - Personalfragen im allerweitesten Sinn, das sind Fragen der Motivation, der innerbetrieblichen Kommunikation, der effektiven und befriedigenden Zusammenarbeit und des Teamworks über die Grenzen von Dienstgruppen hinweg, überhaupt die Frage einer von allen als sinnvoll erfahrbaren Arbeitsgestaltung in den Bibliotheken. Wie kann die moderne Technologie gleichermaßen für das Ganze rationell wie für den einzelnen befriedigend eingesetzt werden?

Auch in den traditionellen Fächern unserer Bibliotheksschulen bestehen bestehen durchaus noch Defizite, z.B. in Fragen der Kaufpolitik (Reflexion der Selektionskriterien), z.B. in der Theorie der sachlichen wie der formalen Erschließung.3

Und was die Organisation der Ausbildung anbelangt: hier wäre vor allem über die Möglichkeiten einer Verzahnung von theoretischem und praktischem Teil nachzudenken. Die Verlagerung des theoretischen Teils als "Bibliothekswissenschaft" an eine Universität erschwerte aber eine solche Integration, statt sie zu fördern.

Über solche Punkte müßten wir reden, und man darf den Autoren des besprochenen Aufsatzes dafür dankbar sein, die Diskussion wieder in Gang gebracht zu haben. Denn eine verbesserte Ausbildung nützt allen: den Bibliothekaren, den Bibliotheken und denen, für die sie da sind.

Anmerkungen

1Cf.: Bibliothekswissenschaft als spezielle Informationswissenschaft : Probleme u. Perspektiven, erörtert beim 2. Kölner Kolloquium (9.-10. Mai 1985) anläßlich d. 10jährigen Bestehens d. Lehrstuhls für Bibliothekswissenschaft d. Univ. zu Köln / [Hrsg.] Paul Kaegbein. - Frankfurt am Main : Lang, 1986 (Arbeiten und Bibliographien zu Buch- und Bibliothekswesen ; 4), sowie die Diskussion H. Limburg - E. Plassmann im Mitteilungsblatt des Verbandes der Bibliotheken des Landes Nordrhein-Westfalen, NF 27-29, 1977-1979.

2Rundschreiben, 1990, H. 4, S. 4.

3Cf. Günther Pflug: Bibliotheksplanung und Bibliothekarsausbildung: zum Selbstverständnis des Bibliothekars; ZfBB, 36, 1989, S. 89-97.


Juni 1991

Erstveröffentlichung in: Bibliotheksdienst, 25. Jg. (1991), H. 6, S. 952-954.

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