Wer Werke Shakespeares oder Abhandlungen über ihn im Internet lesen
möchte, kann eine Suchmaschine wie AltaVista[2] benutzen: gibt man die Zeichenkette "shakespeare" ein, so
erhält man eine Liste von "ungefähr 100.000" Treffern[3], jeweils mit dem Titel der betreffenden Seite und einer
kurzen, automatisch erzeugten Inhaltsangabe[4].
Nach welchen Kriterien diese Liste geordnet ist, kann man nicht erkennen, und
es finden sich bereits unter den ersten links solche, die nicht mehr
aktiv sind.
Die Suche über alle Seiten der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, einschließlich der Düsseldorfer Virtuellen Bibliothek,[5] hingegen führt uns zu einer Liste aus acht Zeilen, und an erster Stelle wird die Seite ULB, Düsseldorf, Anglistik/Autoren[6] aufgeführt. Mit einem Mausklick gelangt man dorthin und findet im Abschnitt "William Shakespeare" drei Rubriken mit insgesamt knapp 20 Hyperlinks, jeweils mit kurzen Kommentaren, und selbstverständlich nur korrekte URLs.
Dies ist, an einem Beispiel dargestellt, das Prinzip der Düsseldorfer Virtuellen Bibliothek.[7] Ihr geht es in erster Linie um Auswahl und Erschließung. Die Düsseldorfer Virtuelle Bibliothek ist eine geordnete und kommentierte Sammlung von ausgewählten und ständig überprüften Internetquellen zu allen Wissenschaftsfächern.[8] Ziel ist es, auf eine möglichst hohe Zahl von Fragen eine möglichst gute Antwort zu geben. Während Suchmaschinen, Datenbanken und (gedruckte oder elektronische) Bibliographien mehr oder weniger alles aufnehmen, was sie finden, spielt bei der Düsseldorfer Virtuellen Bibliothek die Qualität der Quelle eine wichtige Rolle.
Schon im Februar 1995 hat die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf ihre erste Homepage im Internet veröffentlicht, und diese enthielt bereits eine Handvoll Verweisungen auf externe Informationsquellen zu verschiedenen Wissenschaftsfächern.[9] Diese links wurden laufend ergänzt, so daß die eine Hauptseite bald zu umfangreich wurde, weshalb eine eigene Resource-Page angelegt worden ist. Dafür bot sich der Name "Die Düsseldorfer Virtuelle Bibliothek" an, der rasch von parallelen Quellensammlungen wie z. B. der der Universitätsbibliothek Bielefeld nachgeahmt worden ist.[10] Aus der einen Seite sind mittlerweile weit über 200 geworden, die mehr als 6.500 verschiedene Hyperlinks auflisten.[11]
Dieser rasche Aufbau eines umfassenden Internet-Angebots war nur deshalb möglich, weil nicht zuerst in vielen Sitzungen verschiedener Gremien ein ausgefeiltes Konzept entworfen, diskutiert, redigiert, verworfen, wieder diskutiert etc. wurde, sondern weil ich einfach angefangen habe, Quellen nach Fächern geordnet zusammenzutragen. Als die Sammlung umfangreicher wurde, hat sich ein Aufbau angeboten, der sich an der systematischen Aufstellung der Bücher und Zeitschriften im Freihandbereich der Düsseldorfer Zentralbibliothek orientiert, ohne diesen Punkt für Punkt zu kopieren (siehe Abbildung) . Die Direktorin der Universitäts- und Landesbibliothek hat das Unternehmen mit wohlwollendem Interesse gefördert, ihm aber auch die - gerade für die Motivation der mehr und mehr beteiligten Kolleginnen und Kollegen - nötige Freiheit gelassen. Jede Seite wird von dem verantwortet, der als Redakteur unterzeichnet, und braucht kein förmliches direktoriales Placet. Korrekturen, Änderungen, Erweiterungen sind so unbürokratisch und ohne Verzögerung möglich.
Beschleunigt wurde der Aufbau auch dadurch, daß die meisten Redakteure ihre Seiten selbst in HTML schreiben. Bewährt hat sich daneben das Modell einer Arbeitsteilung: der Fachreferent sammelt die Internet-Adressen und entwirft die Gliederung der Seite, ein interessierter Kollege des gehobenen Dienstes schreibt diese dann in HTML - so ist ein kleines Team für ein Fach verantwortlich, beide unterzeichnen die Seite mit ihrem Namen ("Redaktion" und "Gestaltung"). Dieses Verfahren ist allemal effektiver und motivierender als die Weitergabe von Adressen an eine Abteilung, die diese verarbeiten soll, ohne namentlich in Erscheinung zu treten.
Ein zentrales Redaktionskommitee gibt es nicht. Initiiert und entworfen wurde das Angebot der ULB Düsseldorf im Internet von mir, und ich versuche nun, es als Ganzes im Auge zu behalten, zu pflegen und weiterzuentwickeln. Ansonsten achte ich lediglich darauf, daß die Seiten einigermaßen korrektes HTML enthalten und daß sie dem einheitlichen Schema entsprechen (Kopf- und Fußzeilen, Unterzeichnung, Farbe, Reihenfolge der Gliederungspunkte Aktuelles - Informationen aus der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf - Sammlungen von Internetquellen - ... - Zeitschriften). Änderungen an diesem Muster werden informell besprochen, teils auch allen Kolleginnen und Kollegen per E-Mail an alle vorgelegt.
Nicht zuletzt ist es die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit dem Düsseldorfer Universitätsrechenzentrum, die den raschen Aufbau der Virtuellen Bibliothek ermöglicht hat - die Seiten sind auf dem Server des Rechenzentrums beheimatet: dieses stellt die Technik zur Verfügung und betreut sie, die Bibliothek kann sich ganz auf die Inhalte konzentrieren.[12]
Es sind also die Fachreferentinnen und Fachreferenten, die die Seiten ihrer Fächer betreuen.[13] Sie erweitern den Objektbereich ihrer klassischen bibliothekarischen Aufgaben auf Internetquellen, indem sie links sammeln ("erwerben"), durch systematische Anordnung und Kommentare erschließen und der Benutzung zur Verfügung stellen.[14]
Ursprünglich war geplant, pro Fach nur einige wenige Einstiegspunkte zur Verfügung zu stellen, nämlich Verweisungen auf fachliche Sammlungen von Internetquellen, also auf Seiten, die versuchen, möglichst alles zu einem Thema zusammenzutragen. Bietet man mehrere links auf solche umfassenden Sammlungen zu einem Fach, so ist es für den Benutzer ein leichtes, sich einen Überblick zu verschaffen und die zur Beantwortung einer speziellen Frage benötigten Informationen zu finden.
Diese Ausgangskonzeption, lediglich jumping pages für den ersten Einstieg anzubieten, wurde bald überschritten zu Gunsten einer detaillierteren Auflistung auch einzelner Quellen. Am weitesten ist dabei Gerd Bracht in der Medizin gegangen, wo auf einem guten Dutzend (!) Seiten alles Bedeutende zum Thema zusammengestellt ist.[15] Besonders hervorzuheben sind ferner die Fächer Agrar-, Ernährungs- und Forstwissenschaft, Anglistik, Bibliotheken und Bibliothekarisches, Biologie, Frauen im Internet, Germanistik, Jiddistik, Klassische Philologie, Kunstwissenschaft, Natur- und Umweltschutz, Ostasienwissenschaften, Pharmazie, Romanistik, Volkskunde. Innerhalb der Fächer werden Schwerpunkte dort gesetzt, wo auch in Forschung und Lehre der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Schwerpunkte bestehen.[16]
Damit hat die Bibliothek das Feld "Internet" besetzt und ihre Zuständigkeit für Informationen gleich welchen materiellen Trägers bewiesen. Sie hat so weitgehend verhindert, daß in den Fakultäten nennenswerte Internet-Sammlungen aufgebaut wurden,[17] die die Bibliothek auf den Bereich der herkömmlichen Medien verwiesen hätten.
Die Überlegenheit der Bibliothek äußert sich nicht zuletzt darin, daß sie die Möglichkeit hat, ihre Seiten dauerhaft anzubieten und ständig zu pflegen. Einmal in der Woche werden alle links der Düsseldorfer Virtuellen Bibliothek mit einer speziellen Software überprüft[18], und die festgestellten Fehler werden sofort korrigiert. So liegt die Fehlerquote stets unter einem Prozent, während man bei einer Suchmaschine erfahrungsgemäß auf 20-30 % fehlerhaften Seiten trifft.
Gleichzeitig bewährt sich die bibliothekarische Kunst der Informationsvermittlung auch im Internet: hier gilt es nicht allein, Quellen zu sammeln, sondern auch die Navigation durch Hilfstexte zu erleichtern bzw. erst zu ermöglichen. Über einen Punkt "Hilfe", der in der Kopf- wie Fußzeile jeder Seite angeboten wird, findet man mehrere Hilfstexte, u.a. die Hinweise zur Informationssuche über das Internet[19] und die Bedienungsanleitung für die WWW-Software Netscape[20]. Darüber hinaus bieten Kopf- und Fußzeile jeder Seite links auf einen umfangreichen Index, eine Volltext-Suchmaschine über alle Seiten der ULB, und ein E-Mail-Formular, mit dem man auch persönliche Beratung per Mail oder Telefon anfordern kann.
Die Düsseldorfer Virtuelle Bibliothek verzichtet bewußt auf frames und ist mit allen Browsern gut lesbar. Sie kommt auch fast ganz ohne Graphiken aus, was besonders die Benutzer freut, die über Modem zugreifen, für jedes übertragene KB also bezahlen müssen und deshalb an einem möglichst hohen Anteil von Nutzinformationen interessiert sind.[21]
Die Statistik bestätigt die Richtigkeit des Konzepts: 8.500 Zugriffe wurden im Oktober 1995 gezählt, 177.641 waren es im Januar 1998.[22] Eine genauere Analyse zeigt den hohen Anteil der Zugriffe via Modem. Fast noch wichtiger scheint mir die Zahl der externen links auf die Düsseldorfer Bibliotheks-Seiten zu sein, derzeit sind es knapp 1.200.[23]
Damit hat sich der zeitliche Aufwand für die Erstellung und Pflege der Düsseldorfer Virtuellen Bibliothek gewiß gelohnt, zumal auch das Internet-Angebot zum guten Ruf der Universitäts- und Landesbibliothek innerhalb der Universität beiträgt, was im Zeitalter des Globalhaushaltes außerordentlich wichtig ist.[24]
Ohnehin hält sich der Aufwand in Grenzen: wir haben ja mit ganz wenigen URLs pro Fach begonnen, und weitere immer dann ergänzt, wenn die sonstige Tätigkeit etwas Zeit dafür ließ. Diese zusätzliche Zeit wurde nicht zuletzt durch die Entlastung der Fachreferats-Tätigkeit gewonnen, welche die Einführung der automatischen Indexierung mit sich brachte (Milos)[25]. Darüber hinaus ist bei allen beteiligten Kolleginnen und Kollegen die Motivation groß genug, immer wieder abends und am Wochenende freiwillige unbezahlte Überstunden einzubringen. Den Steuerzahler jedenfalls - und das sei als Sensation festgehalten - hat Die Düsseldorfer Virtuelle Bibliothek nichts gekostet, ganz im Gegensatz zu verschiedenen anderen derartigen deutschen bibliothekarischen Projekten, die trotz hoher Zusatz-Mittel eher kläglich vor sich hinvegetieren.[26]
Für die Pflege der vorhandenen und das Hinzufügen neuer links genügen ein bis zwei Wochenstunden pro Fach. Als Quellen neuer URLs dienen einerseits andere thematische Sammlungen und Virtuelle Bibliotheken,[27] andererseits "laufende Bibliographien" wie der Scout Report, "a weekly publication offering a selection of new and newly discovered Internet resources of interest to researchers and educators".[28] Darüber hinaus finden sich Hinweise natürlich auch in der gedruckten Literatur, und nicht zuletzt erhalten wir immer häufiger (elektronische) Briefe, die uns auf neue Quellen aufmerksam machen - in vielen Fällen freilich von Autoren, die um Aufnahme in Die Düsseldorfer Virtuelle Bibliothek nachsuchen.
Am Ende des 20. Jahrhunderts leben wir in einem Zeitalter der Information, oder besser: der schier unbegrenzten Informationen - das ist ein Gemeinplatz, der durch Wiederholung nichts von seiner Richtigkeit verliert. Aber "schon jetzt ... zeigt sich, daß die Aussicht, an eine bestimmte Information zu kommen, mit der Vermehrung der Informationsmöglichkeiten drastisch abnimmt. ... Zu viele Antworten sind wie gar keine ... es müssen Mittel und Wege gefunden werden, die immer reichlicher zur Verfügung stehenden Informationen menschengerecht zu filtern."[29]
Keine Institution ist für die Übernahme dieser Filterfunktion so geeignet wie die Bibliothek, hat sie doch jahrtausendelange Erfahrung in dieser Tätigkeit - vorausgesetzt, man ersetzt den passiven Begriff des "Filterns" durch "Sichten, Auswählen, Aufbereiten, Anordnen und Kommentieren". So wird die Bibliothek eine immer wichtigere Rolle spielen in einer Zeit, wo - nach einem berühmten Wort Negropontes - "der Wert von Informationen über Informationen größer sein kann als der Wert der Informationen selbst".[30]
Erstveröffentlichung in: NfD-Information.Wissenschaft und Praxis, 49. Jahrgang/Volume 49, Nr. 4/1998, S. 196-198.
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